Früher, also im Vorgestern des Vorgestern, war die Sache klar. Die
Menschen lebten in einem Dorf. Sie arbeiteten im Dorf. Pflanzten sich
fort in einem Dorf und das gesamte gesellschaftliche Leben spielte sich
in eben diesem Dorf ab. Heute, also im Übermorgen des Vorgestern,
ist die Sache nicht mehr ganz so klar. Die Menschen leben entweder im
Dorf oder in der Stadt oder auf dem Mond (vielleicht noch nicht ganz).
Sie arbeiten eventuell noch im Dorf, aber doch eher in der Stadt. Sie
pflanzen sich fort, wo eben es ihnen passt oder der Samen und die Eizelle
halt eben mal so zusammentreffen. Das gesellschaftliche Leben hat sich
von der Strasse ins Second Life verschoben.
Kein Dorf ohne Gespräch
Doch halt. Eines hat, neben dem Menschen selbst, diese Umwälzungen
überstanden: Das Dorfgespräch. Das Dorfgespräch ist nicht
nur ein Gespräch zwischen zwei Dorfbewohnern, sonder es ist mehr.
Es ist die Summe aller Gespräche in einem Dorf, deren Weiterverbreitung
und die Rezeption. Kurz: Der Diskurs. Doch vor allem ist es eines: Der
Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält. Das hat mehrere Gründe.
Erstens ist der Mensch, vor allem die feminine Ausformung, von Natur aus
ein neugieriges Wesen. Der Mensch dürstet gerade danach Neues zu
erfahren. Menschliche Schicksale und Indiskretionen interessieren ihn
besonders. Wer mit wem, wer mit wem nicht mehr oder wer mit wem schon
wieder, dies sind Fragen die besonders interessieren. Doch nicht nur Liebschaften
und andere zwischenmenschlichen Interaktionen sind von belangen. Nein.
Auch Unfälle, Losgewinne und beruflicher Erfolg oder Misserfolg locken
die menschliche Neugierde. Zweitens kann der Mensch, wenn er etwas Neues
weiss, es nicht für sich behalten. Er muss es weitererzählen,
weiterverbreiten und zuweilen auch noch mit dramatischen Elementen anreichern.
So verbreiten sich vermeintliche Neuigkeiten wie ein Lauffeuer (vgl. Openair
Frauenfeld). Angelegenheiten die eine grosse Portion Spannung und Dramatik
beherbergen, verbreiten sich dabei doppelt so schnell.
Schneiden ist Wissen
Die vermeintlichen Neuigkeiten gelangen aber nicht einfach so ins Dorfgespräch.
Grösstenteils bedarf es eines Wissensverbreiters. Diese Personen
sind meist wichtiger als der Stammesvater (Gemeindepräsident). Sie
üben jedoch keine politischen Ämter aus. Der prominenteste Wissensverbreiter
ist wohl die Coiffeuse, gefolgt von ihrem männlichen Berufskollegen.
Gastwirte und Bäcker sind ebenfalls wichtig. Und wenn die Tante Emma
noch nicht gestorben ist, dann sicher auch sie. Diese Wissensverbreiter
erfinden aber meist die Neuigkeiten nicht einfach so. Sie werden ihnen
regelrecht zugetragen. Denn, wer etwas Neues weiss, der möchte es
weiterverbreiten. Dies geschieht am einfachsten, wenn man es seiner Coiffeuse
so beiläufig steckt und schwups weiss es das ganze Dorf. Dorf ist
in diesem Sinne natürlich nicht politisch zu verstehen. Eher als
eine Gemeinschaft von Leuten, die sich ab und zu auf der Restaurantschwelle
über den Weg laufen. Daher kann Dorf auch als Quartier einer Stadt
oder als Weiler verstanden werden, obwohl es dort nicht immer eine Restaurant
hat – eher eine Besenbeiz.
Wohin des Gespräches?
Das Dorfgespräch wird sicher auch in Zukunft die Gesellschaft zusammenhalten.
Die Frage ist nur: Wird das Dorfgespräch auch die Globalisierung
mitmachen? Oder wird das Dorfgespräch die Globalisierung aufhalten
oder gar beschleunigen? Auf Globalisierungsfragen gebe ich generell keine
Antworten, auch wenn ich sie mir selber gestellt habe. Eines ist aber
sicher: Das Dorfgespräch wird sein oder wir werden nicht sein.