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reportage

Polizeivisite am Rande der Gesellschaft

Die Randständigen Winterthurs treffen sich täglich im Stadtpark. Die Polizei beobachtet die Szene ganz genau und führt regelmässig Kontrollen durch, mit viel Respekt - gegenseitig.

Von Silvan Meile

Blumen, Plüschtiere und ein letzter Gruss mit Dutzenden Unterschriften schmücken liebevoll den Platz vor einem Baum im Winterthurer Stadtpark. Am Baumstamm hängt ein Foto, auf welchem Emil ein letztes Mal seinen Freunden zulächelt. Es ist eine kleine Gedenkstätte, erstellt von Randständigen für einen von ihnen. Emil fand vor wenigen Tagen an genau dieser Stelle den plötzlichen Tod, trotz sofort eingeleiteten Reanimationsversuchen durch die Sanität und die Stadtpolizei. Die Wachtmeister Nüssli, Specker, Sturzenegger und Polizist Diggelmann von der Winterthurer Stadtpolizei halten an dieser Stelle kurz inne. Sie kennen den Ort, an dem sich die Alkoholiker und Drogensüchtigen tagein tagaus zum Trinken treffen. Mehrmals täglich wird die Szene kontrolliert.

Ausweis stets griffbereit
„Müssen die Blumen weg?“, fragt eine der drei Personen, welche an diesem trüben Herbsttag bereits um 09:30 Uhr mit billigem Wein und Bier auf der Parkbank sitzen. Alle drei halten unaufgefordert ihren Ausweis bereit. Sie sind es sich gewohnt, kontrolliert zu werden. „Da muss ich aber noch ein paar Kollegen rufen, wenn sie gleich zu viert ankommen“, witzelt einer. Der Geruch von Alkohol liegt in der Luft. Etwa hundert Leute seien an Emils Beerdigung gewesen, sagt die einzige Frau auf der Parkbank. Er habe alle gekannt, sei ein Winterthurer gewesen. In der linken Hand hält sie eine Bierdose, in der rechten ihren Ausweis und eine Zigarette. Die Frau ist in die Jahre gekommen, die Alkoholsucht hat sie gezeichnet. Ihre Haut ist gerötet und die Augenringe sitzen tief. Sofort sprechen sie mit den drei Wachtmeistern über Emil, während in einigen Metern Entfernung Polizist Diggelmann mit seinem Funkgerät die Personalien übermittelt. Am anderen Ende wird überprüft, ob die Personen ausgeschrieben sind, zum Beispiel weil sie vom Betreibungsamt gesucht werden, ihre Post wochenlang nicht mehr abgeholten oder gegen ein Rayonverbot verstossen haben. Personen, die in der Szene negativ auffallen, können mit einem solchen Verbot belegt werden, dafür gibt es in der Winterthurer Polizeiverordnung einen Wegweisungsartikel.

„Alle negativ“
Ein Mann um die 50 mit verwahrloster Erscheinung erzählt, dass er die ganze Nacht in einem Architekturbüro gearbeitet habe und jetzt seine Flasche Wein zum Feierabend trinke. Er zittert am ganzen Körper, welcher in einen zu kurzen, äusserst altmodischen Anzug gepackt ist. Nur die Kohle sei den Menschen wichtig. Ihm müsse aber niemand etwas geben. „Ich schaue für mich selber“, nuschelt er und trinkt Wein aus der Flasche. Es sind anständige Randständige. Ein weiterer Mann mit langen, ungepflegten Haaren kommt an. Flaschen klirren, als er seine mitgebrachte Tasche auf den Boden stellt. Noch bevor er sich auf die Bank setzt, streckt er der Polizei seinen Ausweis entgegen. Man wünscht sich einen guten Morgen. Das Kontrollieren der Randständigen gehört zur Routine, vertrieben werden sie von hier nicht. „Irgendwo müssen sie ja auch sein und im Prinzip machen sie nichts Verbotenes“, sagt Herr Nüssli, solange keine Drogen im Spiel seien. Nur beim nahe gelegenen Musikpavillon dürfen sie nicht mehr sein, so will es Politik und Bevölkerung. Der windgeschützte Pavillon galt jahrelang als Treffpunkt der Szene und Dorn im Auge der Stadt. „Alle negativ“ lautet dann die Meldung über den Funk. Die Polizisten geben den Leuten ihre Ausweise zurück und verabschieden sich. „Wir Polizisten haben ein gutes Verhältnis zu den Randständigen. Als sie sahen, wie die Polizei und die Sanität an jenem Nachmittag alles unternahmen, um Emil zurück ins Leben zu holen, ist der Respekt gegenüber der Polizei deutlich gestiegen“, erzählt Nüssli.

Ordentliche Trinker
Kurz vor dem Mittag begibt sich die Polizeipatrouille wieder zu Fuss in den Stadtpark zu den Randständigen. Es herrscht bereits reges Treiben. Knapp 20 Leute haben sich mittlerweile zum täglichen Botellon für Süchtige eingetroffen. „Sie werfen ihren Abfall in die dafür vorgesehenen Eimer und benützen die öffentliche Toilette“, sagt Wachmeister Nüssli, „das muss man ihnen lassen“. Gegen Abend könne es jeweils zu aggressivem Verhalten kommen, aber beim Eintreffen der Polizei beruhige sich die Lage normalerweise ganz schnell.

Eine junge Frau erzählt einem der Polizisten, sie hätte gerade einen kalten Entzug durchgemacht. Jetzt wolle sie sich noch für eine Therapie mit psychologischer Betreuung anmelden. Danach sei dann endgültig Schluss. Dann ziehen sie und ihr Freund weg von hier. „Raus aufs Land. Irgendwo in den Thurgau“, sagt sie, während Emil noch immer vom Baum her lächelt.
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